Ein nachdenklicher 25. Tag der Deutschen Einheit

10/2015 - Andreas Mehlstäubl wollte eigentlich nur mehr sehen von der Welt, als ihm in der DDR erlaubt war. Schließlich hielt er es nicht mehr aus, versuchte zu fliehen und wurde gefasst. Über seine Haft, die perfiden Umstände seiner Überwachung und die Auswirkungen auf sein weiteres Leben berichtete der Zeitzeuge in einem FORUM-Vortrag am Vorabend des 25. Tags der Deutschen Einheit. Am Vormittag hatte er bereits zwei Berufsschuljahrgänge besucht und traf morgens genauso wie abends auf ein interessiertes Publikum.

Walsroder Zeitung vom 06.10.2015: Der Traum von Palmen und die Fremdbestimmung. „Man wurde gelebt“ – Andreas Mehlstäubl zu Mechanismen der DDR.

Freiheit – das ist für jeden etwas anderes. Ein Staat, der dies nicht anerkennt, sieht sich irgendwann in verschiedenen Bereichen – sei es in der Wirtschaft, im Bildungssystem oder in seinen politischen Grundsätzen – erschüttert oder zerstört. Andreas Mehlstäubls persönlicher Traum von Freiheit war es, einmal an einem Palmenstrand zu liegen und beruflich zur See zu fahren. Wie sein Traum ihn durchs Leben führte, verriet der DDR-Zeitzeuge auf Einladung des Vereins Forum Bomlitz seinen Zuhörern am Freitagabend.

50 Neugierige hatten ihren Weg ins Restaurant „Rosmarin und Thymian“ gefunden, und bereits beim Einstieg in den mit Grafiken und Fotografien unterlegten Vortrag konnte sich Mehlstäubl der Aufmerksamkeit seines Publikums sicher sein. Der DDR-Zeitzeuge begann mit einer einfachen Zeichnung, die ein Strichmännchen unter Palmen zeigte. So einfach die per Beamer an die Wand projizierte Zeichnung sein mochte, war sie doch ein aussagekräftiges Symbol für die Unbefangenheit eines Jugendtraumes. Mehlstäubl, Jahrgang 1967, wollte als junger Mann zur See fahren, „um einmal einen Palmenstrand genießen zu können – im nicht-sozialistischen Ausland. Denn da, wo wir als DDR- Bürger hindurften, hatte ich vieles gesehen.“ S ein Jugendtraum sollte der Auslöser für eine Reihe von Brüchen und Peinigungen sein, aus denen am Ende nur einer selbstbewusst hervorgehen würde, nämlich der autobiografische Referent selbst.

Dabei nahm Mehlstäubl schon mit der zweiten Grafik und einem gewissen Humor vorweg, dass sein Jugendtraum, als Matrose zur See zu fahren und beim Landgang einen Palmenstrand zu genießen, jäh zerplatzte – ein dicker roter Strich quer über die vorangegangene Grafik war Untertreibung in Reinkultur. Seine der Staatssicherheit bekannten „provokativen Einstellungen“ hatten dazu geführt, dass ihm das Seemannsbuch entzogen wurde. Was Mehlstäubl erst am Ende seiner umso längeren inneren Reise erfahren musste, war die Tatsache, dass er seit seinem 16. Lebensjahr vom eigenen Vater bespitzelt und stets der Staatssicherheit gemeldet worden war. „Die wussten die Antworten auf alles, was sie mich in den vielen Verhören fragten“, gab Mehlstäubl seinem gebannten Publikum zu bedenken, „verhört wurde trotzdem mit den entsprechenden Fragen. So konnte man nicht erahnen und rekonstruieren, wer einen ausforschte und verriet“. Was nach der bloßen Darlegung einer Methode klingt, war gleichzeitig ein wichtiges Indiz für die Authentizität des DDR-Zeitzeugen. An Stellen, wo man emotionale Ausbrüche erwartet hätte, wechselte Mehlstäubl ins Unpersönliche „man“. Damit wurde er nicht nur seinem Anspruch gerecht, zu berichten, ohne mit erhobenem Zeigefinger zu belehren; er verdeutlichte ebenfalls einen von ihm unabhängigen Mechanismus.

Systeme spucken Menschen aus, die in das jeweilige System nicht passen. Die Wege sind dabei unterschiedlich. Mehlstäubl wollte ursprünglich nicht fliehen. „Die DDR, das war meine Heimat. Als Matrose wäre ich dahin zurückgekehrt – nur mit Eindrücken von anderen Ländern. Ich wollte nie für immer weg. Niemand flüchtet freiwillig.“ Nachdem die Repressalien sein Leben aufgrund des versagten Berufswunsches noch weiter einengten, entschloss sich Mehlstäubl 1987 zum Fluchtversuch über die Tschechoslowakei nach Bayern. Doch nach dem Durchschneiden des Maschendraht- und des Stacheldrahtzaunes wurde der Alarm ausgelöst. „Zwei junge tschechische Soldaten, 18 und 19 Jahre alt, kamen in einem Jeep herbei gerast und nahmen mich fest. Wer vorher gewusst hätte, was einem dabei passiert, hätte niemals den Mut zur Flucht aufgebracht.“ Mehr war Mehlstäubl zu der vielleicht grausamsten Station seines Lebens auch seitens interessierter Zuhörer nicht zu entlocken. Diese Unaufgeregtheit war die zentrale Stärke seines Vortrags, der keine Sensationsgier befriedigte, sondern sich stets auf den Mechanismus, auf das System, konzentrierte.

Persönlich war allenfalls der Weg, den Mehlstäubl wählte, als er dem sozialistischen Gesellschaftsmodell entkommen wollte. „Ich hätte mich auch am Bahnhof Friedrichstraße mit den Rentnern in eine Reihe stellen können. Vielleicht wäre ich dann für zwölf Monate im Knast gelandet, aber nach der Hälfte der Zeit freigekauft worden. Das war mir aber zu blöd.“ In Haft habe er erst die volle Berechtigung seiner Entscheidung feststellen können. „Die DDR war kein Unrechtsstaat, sie war ein Willkürstaat. Durch meinen Fluchtversuch wusste ich wenigstens einen Grund, in Haft zu sitzen, zumindest nach DDR-Recht.“ Auch hier schlug Mehlstäubl den Bogen gekonnt vom kleinen Persönlichen zum großen Allgemeinen, denn Willkür findet sich als Hauptmotiv am Anfang vieler Fluchtgeschichten.

Nach seiner Haft in Hohenschönhausen und Karl-Marx- Stadt wartete er darauf, freigekauft zu werden, doch im September 1987 besuchte Erich Honecker die Bundesrepublik, und die große Zeit der Freikäufe war vorbei. Stattdessen folgte eine Amnestie, und Mehlstäubl fand sich in vermeintlicher Freiheit wieder – in der DDR, für ihn so gut wie ein Gefängnis. Nach der Pflichtteilnahme an sogenannten beruflichen Erziehungsmaßnahmen zur Wiedereingliederung durfte er am 1. März 1988 mit kleinstem Handgepäck die DDR über den S-Bahnhof Friedrichstraße verlassen. Unterschlupf fand er bei Freunden in West-Berlin. Verglichen mit dem langen Leidensweg folgte recht kurz nach seinem Verlassen der DDR der Mauerfall, doch Mehlstäubls Freude hielt und hält sich in Grenzen. „Was für manchen nach Freiheit aussieht, ist nun aber auch die Freiheit von denen geworden, die ein Volk einsperrten. Da ist doch kaum einer strafrechtlich verfolgt und verurteilt worden. Die schwammen im Apparat nach der Wende doch gleich ganz oben weiter.“ Einzig an dieser Stelle ließ der Vortragende Anklänge von Unmut in seiner Stimme erkennen.

Mehlstäubl schloss mit der Darstellung eines Widerspruchs, aus dem die Bundesrepublik der Gegenwart viel lernen könne: „Es ist richtig, dass man sich als kleiner Bürger, wenn man also nicht aneckte, um kaum etwas kümmern musste – gemessen an heutigen Umständen. Behörden waren im Alltagsleben kaum vorzufinden, Geld spielte bei Wohnungsanspruch eine deutlich geringere Rolle, und ein Arbeitsplatz war da. Aber man hat nicht gelebt, sondern man wurde gelebt“, beschrieb Mehlstäubl das von ihm als reine Fremdbestimmung empfundene System. Den Brückenschlag zu den weithergeholten Gleichmacher-Utopien des heutigen Sozial- und Bildungssystems unter Auflösung der Geschlechterrollen habe man vermissen müssen.

Ein sichtlich interessiertes wie bewegtes Publikum verließ nur langsam die Räumlichkeiten, und viele Zeitzeugen, darunter weitere ehemalige DDR-Flüchtlinge, reflektierten ihren eigenen Ausweg aus dem damaligen System.

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