"Holz, viel Holz!" schrieb Arno Schmidt

09/2020 - Vor 100 Jahren wurde die Holzindustrie Cordingen gegründet. 69 Jahre ist es hingegen her, dass Arno Schmidt seinen Protagonisten in "Schwarze Spiegel" mit dem Fahrrad das menschenleere Fabrikgelände erkunden ließ: "Drüben war eine Schilderei; ich latschte müde hin „Holzindustrie Cordingen“, stands über höllisch hellgelb und schwarz geringelten Pfählen. (...)  Diesmal flanierte ich nach der entgegengesetzten Richtung, auf den Fabrikschornstein zu. Ein Fußsteig führte nach links bis zum Bahndamm, gleich neben der Brücke, und da sah ich schon, daß eins der Geleise hinter ins Fabrikgelände lief, also ihm nach, über die torfbraunen Schwellen. Holz, viel Holz! In mächtigen Bretterstapeln unter Schuppen; in Sperrholzplatten, aneinandergelehnten. Auch Balken, aber weniger. Im Hof noch Riesenstämme, elefantengrau, Buchen zumeist, von 80 bis 100 Zentimeter Durchmesser: schade um die schönen Bäume.

Walsroder Zeitung vom 08.09.2020: Durch Arno Schmidt ein Denkmal gesetzt.

Cordingen gehört zu den kleineren Ortschaften der ehemaligen Gemeinde Bomlitz. Dass es dort längere Zeit ein größeres Unternehmen gab, wissen nur noch alteingesessene Bewohner, denn die Fabrikhallen der Holzindustrie Cordingen sind schon lange einer Wohnsiedlung gewichen. Lediglich das alte Kontorhaus ist noch erhalten und erinnert an das vor 100 Jahren gegründete Werk.

In den schwierigen Nachkriegsjahren wohnte von 1945 bis 1950 der ambitionierte Schriftsteller Arno Schmidt (1914-1979) mit seiner Frau Alice (1916-1983) auf dem Mühlenhof Cordingen. Bei seinen Erkundungen der Umgebung wurde er schnell auch auf die Holzindustrie aufmerksam. Für ihn war die Region mit ihrer ungewöhnlichen Geschichte eine große Stoff- und Inspirationsquelle für seine Erzählungen. Er war wiederholt auch im Hause Marquardt zu Gast, wo “literarische” Abende abgehalten wurden. In diesem Umfeld hatte sich eine kleine Fan-Gemeinde um Arno Schmidt gebildet, die ihn insbesondere nach dem Erscheinen seines Erstlingswerks Levianthan als Schriftsteller verehrte. Ansonsten galt er in Benefeld als Sonderling. Kurz bevor Schmidts Benefeld verließen, fand Ende November 1950 noch ein Abschiedsessen im Marquardtschen Haus statt. In seiner surrealen Erzählung “Schwarze Spiegel”, in der ein Ich-Erzähler sich nach einem dritten Weltkrieg in die Heide zurückzieht, erscheint das Hinweisschild zur Holzindustrie Cordingen als erste konkrete Ortsangabe. Damit ist das Unternehmen von Otto Marquardt mit dem Beginn der schriftstellerischen Karriere von Arno Schmidt untrennbar verbunden.

Den Betrieb der Holzindustrie an die veränderten Marktverhältnisse anzupassen, gestaltete sich anfänglich recht schwierig, weil durch die Zonengrenze und die nach Westen verschobene Grenze Polens alte Handelsbeziehungen mit den ehemals ost- und mitteldeutschen Unternehmen zerschnitten waren. Zudem beeinträchtigten schwankende Holzpreise und die zunehmende Verbreitung neu entwickelter Kunstfaserplatten das Geschäft immer stärker. Nach der Währungsreform entstanden dadurch Verluste, die nur durch Kredite aufgefangen werden konnten. Das führte wiederum zu Differenzen mit dem Aufsichtsrat und den Aktionären. Als die Spreehof-Gesellschaft 1954 in die Liquidation ging, verschärfte sich der Konflikt zwischen Otto Marquardt und den übrigen Teilhabern.

Gleich zwei unerwartete Todesfälle

In dieser schwierigen Zeit mussten Otto und Antje Marquardt einen schweren Verlust hinnehmen. Ihre Tochter, die Ärztin Dr. Traute Lewien, kam Anfang 1956 mit nur 34 Jahren bei einem Autounfall ums Leben und hinterließ den gerade einmal zwei Jahre alten Sohn Thomas (*1953). Der Vater, Dr. Freimut Lewien (1915-1998), ging beruflich in den Harz und ließ den Sohn zur Erziehung im Hause der Großeltern. Es war Otto Marquardt sicher ein Anliegen, seinem Enkel ein geordnetes Unternehmen zu hinterlassen. Das mag mit ein Beweggrund dafür gewesen sein, dass sich die beiden Hauptaktionäre Otto Marquardt und sein Schwager Johannes H. Borsdorf (1903-1985), Generaldirektor bei IBM, im Oktober 1957 dazu entschlossen, “die Gesellschaftsform des Unternehmens von einer Aktiengesellschaft in die dem Unternehmen besser angepasste Gesellschaftsform einer Kommanditgesellschaft” umzuwandeln. Die Firma erhielt daraufhin den Namen “Holzindustrie Cordingen Otto Marquardt KG”.

Damit war die Holzindustrie zu einem Familienunternehmen geworden. Nicht einmal ein Jahr nach der Umstellung starb Otto Marquardt am 20. September 1958 unerwartet mit nur 63 Jahren. Als neuer persönlich haftender Gesellschafter wurde sein Enkel Thomas eingetragen, dem Johannes H. Borsdorf und Antje Marquardt als Kommanditisten beigestellt waren. Obwohl innerhalb der Belegschaft schnell ein erfahrener Betriebsleiter zur Verfügung stand und Modernisierungs- und Rationalisierungsmaßnahmen vorgenommen wurden, ließ sich der Niedergang der Holzindustrie nicht aufhalten. Insbesondere die Kunststoffindustrie drängte die holzverarbeitenden Betriebe immer weiter zurück. Wiederholte Versuche, Käufer beziehungsweise Investoren für das Unternehmen zu finden, waren erfolglos. So blieb der Gesellschafterversammlung Ende 1965 nichts anderes übrig, als die Liquidation der Firma einzuleiten. Eine Woche vor Heiligabend erhielten die 220 Mitarbeiter die betrübliche Nachricht.

Nach und nach wurden alle Grundstücke verkauft

Bis Februar 1966 verloren die meisten Beschäftigten der Firma ihren Arbeitsplatz, fanden aber vielfach bei den anderen großen Arbeitgebern des Landkreises, Wolff & Co. in Bomlitz und Kraft in Fallingbostel, eine neue Stelle. Für das verbleibende Eigentum an Grundstücken gründeten Johannes Borsdorf, Antje Marquardt und der zwölfjährige Thomas Lewien (mit gesetzlicher Vertretung) nach der Liquidation der Holzindustrie eine Liegenschaftsverwaltung, die der Firma Kraft in den leeren Fabrikhallen einen Lagerraum zur Verfügung stellen konnte. Für die Verwaltung der Warnautal-Grundstücke der ehemaligen Holzindustrie bildeten Johannes Borsdorf und der Benefelder Malermeister Günther Oehlerking eine Grundstücksgemeinschaft und führten die Erschließung des Geländes durch. Anfang 1970 verkauften sie erste Grundstücke der ehemaligen Holzindustrie an die Gemeinde Bomlitz, die hier das Neubaugebiet “An der Warnau” entwickelte. Erste Musterhäuser waren schon Mitte 1971 zu besichtigen. Nachdem es für die Lagerhaltung in Cordingen in den 1980er Jahren immer weniger Nachfrage gab und ab 1987 alle Gebäude leer standen, entschlossen sich die Erben Dr. Thomas Lewien und Gudrun Martin, Tochter von Johannes H. Borsdorf, 1989 zum Verkauf des restlichen Industriegeländes an die Gemeinde Bomlitz. Die Fabrikhallen wurden daraufhin abgerissen und ein weiteres Neubaugebiet geschaffen, auf dem 1995 die Bebauung begann.

Obwohl von der Fabrik nichts mehr zu sehen ist, fragen Fans von Arno Schmidt immer wieder nach dem Platz der ehemaligen Holzindustrie. Das erhaltene Kontorhaus wird dann manches Mal wie ein Wallfahrtsort aufgesucht, dem ihr Idol in seinem schriftstellerischen Werk ein Denkmal gesetzt hat.

Thorsten Neubert-Preine

Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.