Das Leben damals war nicht "märchenhaft"

04/2022 - Zu Beginn des 19. Jahrhunderts schrieben Jakob und Wilhelm Grimm die Märchen auf, die man sich im Volk erzählte. Bei der "märchenhaften" FORUM-Führung durch die Cordinger Mühle zeigte der Müllergeselle Johann unter anderem, wie Märchen ein Spiegel des damaligen Alltags waren. Da ging es um Mühlen-Märchen wie z.B. "Rumpelstilzchen", aber auch um andere, die an der Mühle zu finden sind. War in dem dortigen Holzverschlag z.B. Gretels Bruder Hänsel eingesperrt?

Anders als Sagen haben Märchen keinen noch so kleinen Kern von Wahrheit als Inhalt. In Märchen wurden dafür Situationen aus dem alltäglichen Leben genutzt, damit sich die Menschen von damals beim Zuhören darin wiederfinden konnten. Dazu gehörten aber auch traurige und beängstigende Aspekte, denn das frühere Leben war alles andere als "märchenhaft".

Da lebte Schneewittchen z.B. mit sieben Kleinwüchsigen zusammen, die fleißig jeden Tag mit Schaufel und Spitzhacke in die Berge gingen, um nach Gold und Erz zu graben. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist der reale Hintergrund die damals übliche schwere Kinderarbeit: Da die Stollen in Bergwerken schmal und niedrig waren, wurden oft schon kleine Kinder eingesetzt. Durch die harte Arbeit ohne Tageslicht waren die Kinder erschöpft und geschwächt und erkrankten schneller.  Dadurch machten sie einen gealterten Eindruck und wurden im Märchen erzählgerecht als erwachsene "Zwerge" beschrieben. 

Ein ähnlich trauriger Hinweis auf den damaligen Alltag ist in "Hänsel und Gretel" eingebaut: Die "Hexe" soll Hänsel in einem Käfig gefangen gehalten haben, um ihn später zu essen. Der Hinweis auf Kannibalismus bezog sich auf reale Hintergründe. Hungersnöte kamen regelmäßig vor, eine davon fiel in die Zeit der Grimmschen Märchensammlung im "Jahr ohne Sommer". Der Vulkan Tambora in Indonesien war 1815 ausgebrochen, seine Aschewolke verteilte sich rund um den Globus und verdunkelte noch ein Jahr später in Zentraleuropa über Monate die Sonne. Die Folge waren langanhaltende Regenfälle, Seuchen und Missernten, die die Menschen nach der Erntezeit 1816 ohne Vorräte zurückließ. In den Archiven findet man Beschreibungen, wie in der Not schließlich alles gegessen wurde, was man bekommen konnte. Als letzte Möglichkeit soll es auch zu Kannibalismus gekommen sein.

Die Märchen, die man sich im Volk erzählte, sollten die Menschen von damals, wie sie auch an der Cordinger Mühle lebten, unterhalten und auch von ihrem Alltag ablenken. Ganztägige und lebenslange Arbeit, Armut und regelmäßige Seuchen prägten ihre Zeit. Ihr Leben lebten sie trotzdem und machten das Beste daraus. 

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